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Integrations Ministerkonferenz - Beschlüsse 9. INTMK

IntMK - Interner Bereich

User: Gast: Bremen

TOP 3.3: Teilhabe von Neuzugewanderten mit Behinderung verbessern

Beschluss:
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letzte Änderung:
24.04.2024 (11:32:23)

Beschluss:

1. Die für Integration zuständigen Ministerinnen und Minister / Senatorinnen und Senatoren der Länder (IntMK) stellen fest, dass neu zugewanderte Menschen mit Behinderungen vor einer Vielzahl von Barrieren stehen. Diese sind einerseits verbunden mit der vorliegenden Beeinträchtigung, andererseits mit dem aufenthaltsrechtlichen Status und fehlendem Zugang zu Informationen. Bund und Länder werden aufgefordert zu prüfen, wie Angebote für Menschen mit Behinderung sich besser auf Neuzugewanderte einstellen, Angebote für Migrantinnen und Migranten barriereärmer werden sowie inwiefern spezialisierte Angebote für Neuzugewanderte mit Behinderungen geschaffen werden können. Dabei ist die Selbstverantwortung der neu zugewanderten Menschen mit Behinderungen ebenso zu berücksichtigen wie die allgemeine Situation der Menschen mit Behinderungen in Deutschland.
2. Die IntMK appelliert an den Bund, in § 6 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) eine Anspruchsgrundlage auf behinderungsbedingt benötigte Hilfsmittel sowie medizinische, physio-, ergo- und psychotherapeutische Behandlung für alle Geflüchteten zu schaffen.
3. Der Bund wird zudem gebeten zu prüfen, inwiefern praktische oder administrative Hürden den Zugang neu zugewanderter Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zur gesetzlichen Krankenversicherung einschränken.
4. Die IntMK fordert den Bund erneut auf, die im Koalitionsvertrag vorgesehene Regelung zur Sprachmittlung im Kontext notwendiger medizinscher Behandlung im Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) kurzfristig auf den Weg zu bringen und zusätzlich auch eine Verankerung in den SGB I und SGB X anzustreben. Da es sich bei der Sprachmittlung um eine gesamtstaatliche Aufgabe handelt, sollte zudem eine vollständige Finanzierung durch den Bund erfolgen.
5. Die IntMK appelliert an den Bund, im Sinne einer diskriminierungsfreien Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) den Anspruch aller Geflüchteten auf Kostenübernahme für Leistungen der Eingliederungshilfe gesetzlich eindeutig zu regeln. Dabei sind der Zweck und die Zeitdauer des Aufenthaltes zu berücksichtigen und die Frage der Finanzierung der Leistungen einzubeziehen.
6. Die IntMK erinnert an den Beschlussvorschlag im Rahmen der 18. IntMK (TOP 2.3) zur Entwicklung spezialisierter Deutschsprachkurse für Menschen mit kognitiven Einschränkungen. Die IntMK fordert den Bund weiterhin auf, Angebote zu entwickeln, mit finanziellen Mitteln zu hinterlegen und in ausreichendem Ausmaß zur Verfügung zu stellen, die mittels angepasster pädagogisch-didaktischer Konzepte und Lehrmaterialien, entsprechender Qualifikation der Lehrenden sowie bedarfsgerechter individueller Assistenzleistungen auch Menschen mit kognitiven Einschränkungen den Erwerb der deutschen Sprache ermöglichen. Bedarf besteht nicht nur hinsichtlich der Integrationskurse, sondern auch hinsichtlich der Berufssprachkurse, um die Teilhabechancen von Menschen mit Behinderung am Arbeitsmarkt zu verbessern.
Um das Angebot an Spezialkursen für blinde und taube Menschen zu erhöhen, wird der Bund aufgefordert, eine bedarfsgerechte Finanzierung zu gewährleisten und die Anforderungen an die Qualifikation der Lehrkräfte vorübergehend abzusenken.
7. Im Rahmen der 16. IntMK wurde der Bund gebeten, Empfehlungen zu erarbeiten, die entsprechend der EU-Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU Art. 22 ein einheitliches Verfahren zur Identifizierung behinderungsspezifischer Schutz- und Unterstützungsbedarfe von Geflüchteten ermöglichen (TOP 3.4). Diese Bitte hat neue Dringlichkeit gewonnen unter anderem durch die relativ hohe Anzahl von Geflüchteten mit Behinderungen aus der Ukraine, deren Bedarfe ebenfalls zu erfassen sind. Diese müssen bei der Verteilung Geflüchteter berücksichtigt werden und ziehen einen entsprechenden Anspruch auf Versorgung im Rahmen der Aufnahmestrukturen nach sich. Bund, Länder und Kommunen sind gefordert, in den Regelversorgungssystemen für Menschen mit schweren Behinderungen beziehungsweise Pflegebedürftigkeit auch die Bedarfe von Neuzugewanderten zu berücksichtigen. Ebenso sollten im Rahmen baulicher Möglichkeiten grundsätzlich barrierefreie Räume in Unterkünften für Geflüchtete geschaffen und die benötigte Unterstützung angestrebt werden. Geflüchtete mit Behinderungen sind bei der Versorgung mit bedarfsgerechtem Wohnraum zu unterstützen.
8. Die IntMK bittet den Bund, die Einführung von Maßnahmen der Jobcenter und Agenturen zur Teilhabe am Arbeitsmarkt mit integriertem Sprachförderanteil für Neuzugewanderte mit Behinderungen zu prüfen.
9. Die IntMK fordert den Bund auf, mit Blick auf die Verlängerung aller Aufenthaltstitel, die Erlangung einer Niederlassungserlaubnis beziehungsweise der deutschen Staatsbürgerschaft Ausnahmeregelungen zu schaffen, wenn der Lebensunterhalt aufgrund einer Behinderung beziehungsweise der Pflege von Angehörigen unverschuldet nicht gesichert werden kann.

Begründung:

1. Multiple Ausschlüsse
Die UN-Behindertenrechtskonvention und das Behindertengleichstellungsgesetz zielen auf gleichberechtigte Teilhabechancen von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen. Neuzugewanderte Menschen mit Behinderungen unterliegen einem besonders hohen Exklusionsrisiko, da sie von multiplen Benachteiligungen betroffen sind. Besondere Barrieren für Neuzugewanderte ergeben sich einerseits aus fehlenden beziehungsweise geringen Kenntnissen der deutschen Sprache und der Unterstützungsstruktur für Menschen mit Behinderungen in Deutschland. Gleichzeitig ist eine starke Versäulung der Angebote zu beobachten, die sich entweder an zugewanderte Personen oder an Menschen mit Behinderungen richten, ohne die besonderen Bedarfe von neu zugewanderten Menschen mit Behinderungen zu beachten. Benötigt wird eine stärkere Verzahnung der Angebote, eine Ertüchtigung der Träger zum Erwerb einer an Diversity orientierten Handlungskompetenz und zum Abbau der jeweiligen Barrieren (durch Angebote von Sprachmittlung, Umbaumaßnahmen, Angebote in leichter Sprache) sowie eine Förderung spezialisierter Angebote.
Weitere Barrieren beziehungsweise sogar Ausschlüsse können sich aus dem aufenthaltsrechtlichen Status von Neuzugewanderten mit Behinderungen ergeben, insbesondere bezüglich des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Diagnostik und zu Leistungen der Eingliederungshilfe. Im aktuellen Staatenbericht zur Umsetzung der UN-BRK wird Deutschland in den abschließenden Bemerkungen aufgefordert, gesetzliche und andere Maßnahmen zu ergreifen, um Schutz vor multiplen, intersektionellen Diskriminierungsformen (ausdrücklich ist hier die Diskriminierung nach Migrationsstatus genannt) zu gewährleisten.
2. Zugang zu Gesundheitsversorgung und Diagnostik für alle Geflüchteten
Neuzugewanderte mit einer Behinderung sind aufgrund ihrer Einschränkung zugrundeliegenden beziehungsweise mit dieser in Zusammenhang stehenden behandlungsbedürftigen Erkrankungen bereits frühzeitig und häufig auf Behandlung durch Fachärztinnen und -ärzte angewiesen. Nur diese können zudem Diagnosen und Gutachten erstellen, auf Grundlage derer der Grad der Behinderung festgestellt und damit ein deutscher Schwerbehindertenausweis ausgestellt werden kann, der wiederum Voraussetzung für einige Teilhabeförderangebote ist.
Asylsuchende und Menschen in einer aufenthaltsrechtlichen Duldung haben jedoch in den ersten 36 Monaten ihres Aufenthalts in Deutschland nur eingeschränkten Zugang zum Gesundheitssystem. Dies kann zu Verschlimmerung beziehungsweise Chronifizierung von Erkrankungen führen und verzögert den Zugang zu behinderungsbedingt erforderlichen Hilfsmitteln sowie zu Maßnahmen, die an die Feststellung einer Schwerbehinderung gebunden sind.
Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen empfahl Deutschland in seinen „abschließenden Bemerkungen“ vom 03.10.2023, alle gesetzgeberischen, administrativen und sonstigen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass wesentliche Unterstützungsleistungen, einschließlich behinderungsspezifischer Unterstützungsleistungen, von allen geflüchteten Menschen und Asylbewerberinnen und Asylbewerbern mit Behinderungen unabhängig von ihrem Herkunftsland in Anspruch genommen werden können .
Abhilfe schaffen könnte eine Erweiterung der Auflistung der „sonstigen Leistungen“ in § 6 AsylbLG um „Leistungen, die aufgrund einer Behinderung benötigt werden“.
3. Krankenversicherung für aus der EU neu Zugewanderte
Neuzugewanderte aus EU-Mitgliedstaaten sind konfrontiert mit anhaltenden Schwierigkeiten beim Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung. Damit Unionsbürgerinnen und Unionsbürger mit Behinderung von Anfang an Zugang zu Diagnostik, erforderlicher Behandlung und Hilfsmitteln erhalten, sollten bestehende administrative Barrieren geprüft und abgebaut werden. Die aktuelle Situation führt dazu, dass Unionsbürgerinnen und Unionsbürger den Versicherungsschutz durch ihre ausländische Krankenversicherung in Deutschland nicht geltend machen können. Ebenso werden sie bereits bei Aufnahme einer Beschäftigung in Deutschland und damit dem Abschluss einer deutschen Krankenversicherung mit hohen Beitragsschulden konfrontiert, wodurch die Versicherungsleistungen auf ein Minimum abgesenkt werden. Abhilfe könnte insbesondere durch die Verbesserung des zwischenstaatlichen Informationsaustauschs (geregelt in der Verordnung Nr. 883/2004) sowie eine weniger restriktive Auslegung der Vorschriften zur Anwendung der EHIC (European Health Insurance Card) geschaffen werden.
4. Sprachmittlung im Gesundheitsbereich
Für Menschen mit Flucht- oder Migrationshintergrund muss eine gesetzliche Grundlage zur Sprachmittlung geschaffen werden, die klare Regelungen zur Kostenübernahme der Sprachmittlung enthält. Nur so kommen diese Menschen barrierefrei an die ihnen zustehenden sozialen und gesundheitlichen Leitungen. Die Vereinbarung im Koalitionsvertrag des Bundes (Seite 84) „Sprachmittlung auch mit Hilfe digitaler Anwendungen wird im Kontext notwendiger medizinischer Behandlung Bestandteil des SGB V.“ darf nicht zu Lasten der Solidargemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung führen, da dies als gesamtgesellschaftliche Aufgabe angesehen wird.
Die IntMK bekräftigt in diesem Zusammenhang erneut die einschlägigen Beschlüsse der IntMK 2023 (TOP 5.3), IntMK 2022 (TOP 2.11), IntMK 2016 (TOP 2.14), Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) 2021 (TOP 7.7) und Gesundheitsministerkonferenz (GMK) 2022 (TOP 18.1) mit denen der Bund aufgefordert wurde, zügig eine gesetzliche Grundlage dafür zu schaffen, dass Personen, deren Deutschkenntnisse für eine sachgerechte Inanspruchnahme von sozialen Leistungen einschließlich Gesundheitsleistungen nicht ausreichen, das Recht haben, bei der Ausführungen dieser Leistungen mithilfe von Sprachmittelnden zu kommunizieren, und dass die dadurch entstehenden Kosten vom Bund übernommen werden.
Für die Diagnose und Behandlung von neu zugewanderten Menschen ist eine professionelle Sprachmittlung erforderlich, um die Verständigung sicherzustellen; dabei hat sich auch der modellhafte Einsatz digitaler Anwendungen bewährt.
5. Zugang zu Eingliederungshilfe
Viele Maßnahmen, die auf die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen abzielen, sind im SGB IX geregelt. Neu zugewanderte Menschen haben jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen Zugang zu Leistungen der Eingliederungshilfe . Ausgeschlossen sind insbesondere Geflüchtete mit einer Aufenthaltsgestattung beziehungsweise einer aufenthaltsrechtlichen Duldung, die Grundleistungen nach AsylbLG erhalten (in der Regel die ersten 36 Monate).
Der Bund wird aufgefordert zu regeln, dass Kosten für Maßnahmen der Eingliederungshilfe für neu zugewanderte Geflüchtete über § 6 AsylbLG („sonstige Leistungen“) übernommen werden. Die Auslistung der „sonstigen Leistungen“ sollte dafür ergänzt werden um „Leistungen, die aufgrund einer Behinderung benötigt werden“.
Für Leistungsberechtigte nach § 2 AsylbLG können Leistungen der Eingliederungshilfe gewährt werden, da diese bereits einen Anspruch auf Leistungen analog SGB II beziehungsweise SGB XII haben. Die Formulierung in § 100 SGB IX lädt jedoch zu Missverständnissen ein und sollte entsprechend angepasst werden.
Die Gewährung von Leistungen nach § 100 SGB IX sowie nach § 6 AsylbLG steht im Ermessen der zuständigen Behörde. Dieses ist jedoch mit Blick auf höherrangiges Recht zugunsten der Antragstellenden mit Behinderungen eingeschränkt.
Im lichte der UN-BRK sollte deshalb ein Anspruch auf Kostenübernahme für Leistungen der Eingliederungshilfe festgelegt werden.
6. Bedarfsgerechte Deutschsprachkurse
Der Erwerb der deutschen Sprache ist eine wesentliche Voraussetzung für gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Teilhabechancen in Deutschland. Zugewanderte Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen haben in Deutschland jedoch nur vereinzelt die Möglichkeit, die deutsche Sprache zu erlernen. Im Sinne des in der UN-BRK formulierten Anspruches an gleichberechtigte Teilhabechancen für Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen ist die Öffnung des Sprachlernangebotes des Bundes für diese Zielgruppe von entscheidender Bedeutung.
Die Berücksichtigung der individuellen Sprachlernbedarfe zugewanderter Menschen mit Behinderung kann dabei in Form spezieller, auf die Zielgruppe hin ausgerichteter Kursformate oder aber durch die Öffnung bestehender Kursformate für inklusionspädagogische Ansätze erfolgen. Entscheidend ist die Verankerung der Kurse in der Integrationskursverordnung sowie die Bereitstellung finanzieller Mittel für die Entwicklung pädagogisch-didaktischer Konzepte und Lehrmaterialien, die gezielte Qualifikation der Lehrenden für die Arbeit mit kognitiv beeinträchtigten Menschen, sowie die bedarfsgerechte Bereitstellung individueller Assistenzleistungen im Unterricht.
Spezielle Integrationskurse für blinde und taube Menschen werden zwar vom Bund angeboten, existieren in der Praxis jedoch nur an wenigen Standorten, deren Träger häufig lange Wartelisten führen. Entsprechende Berufssprachkurse kommen nur äußerst selten zustande. Dies liegt einerseits an einem Mangel an entsprechend qualifizierten Dozentinnen und Dozenten. Abhilfe könnte zum Beispiel mit Bezug auf taube Dozentinnen und Dozenten geschaffen werden, indem sie entweder von dem Erfordernis einer Zusatzqualifizierung für Lehrkräfte im Bereich Deutsch als Zweitsprache in der Erwachsenenbildung (DaZ-Zusatzqualifikation) befreit werden beziehungsweise das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Durchführung der entsprechenden Prüfung unter Einsatz von Sprachmittlerinnen und Sprachmittler für Deutsche Gebärdensprache ermöglicht. Andererseits ist die Kostenerstattung an die Träger angesichts des Mehraufwands für Kurse für Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen nicht ausreichend. Der Bund wird aufgefordert, eine bedarfsgerechte Finanzierung sicherzustellen.
7. Besondere Schutz- und Unterbringungsbedarfe Geflüchteter mit Behinderungen
Geflüchtete Menschen mit Behinderung haben als besonders schutzbedürftige Personengruppe Anspruch auf die Berücksichtigung ihrer Bedarfe. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist die systematische Identifizierung der jeweiligen Bedarfe bereits innerhalb der Erstaufnahmestrukturen, und zwar sowohl in Bezug auf Asylsuchende als auch auf Geflüchtete aus der Ukraine, die vorübergehenden Schutz beantragen. Derzeit werden Beeinträchtigungen und damit verbundene Bedürfnisse geflüchteter Menschen, sofern sie nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind, zufallsbedingt und allenfalls vereinzelt erkannt. Als Grundlage für ein einheitliches Verfahren zur Identifizierung behinderungsspezifischer Schutz- und Unterstützungsbedarfe könnte der Fragenkatalog der Washington Group on Disability Statistics mit Ergänzungen aus weiteren empirisch erprobten Verfahren dienen.
Um eine bedarfsgerechte Verteilung Geflüchteter mit Behinderungen auf die Bundesländer sicherzustellen, müssten die Bedarfe auch in den Verteilsystemen EASY und FREE verbindlich erfasst werden. Dies würde den aufnehmenden Bundesländern mehr Vorlauf bei der Bereitstellung bedarfsgerechter Unterbringung ermöglichen. Erstaufnahmeeinrichtungen sowie nachfolgende Unterbringungsformen für Geflüchtete sind derzeit oftmals nicht barrierefrei und schlecht an das vorhandene Unterstützungssystem für Menschen mit Behinderung angebunden. Die Regelversorgungssysteme für Menschen mit schweren Behinderungen beziehungsweise Pflegebedürftigkeit sind vielerorts überlastet und nicht auf die Aufnahme von Neuzugewanderten eingerichtet; es fehlen mehrsprachige Angebote beziehungsweise Übersetzungsdienstleitungen, und die Unterbringungsformen für pflegebedürftige Menschen berücksichtigen häufig nicht die Wünsche Geflüchteter, im Familienverband zusammen zu bleiben. Unterkünfte für Geflüchtete wiederum sind nur sehr selten barrierearm ausgestattet. Barrierearmut sollte auch mit Blick auf „unsichtbare“ Behinderungsformen (zum Beispiel Menschen mit Autismus, psychischen Beeinträchtigungen) gewährleistet werden, die mit einem Bedarf an mehr Rückzugsmöglichkeiten verbunden sind. Benötigte Pflegeleistungen müssen ebenso zur Verfügung gestellt werden wie Unterstützung beim Zugang zu Regelleistungen. Geflüchtete mit Behinderungen sollte prioritär der Umzug in bedarfsgerechten Wohnraum ermöglicht werden.
8. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
Jobcenter und Agenturen für Arbeit halten im Rahmen der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsmarkt gezielte Fördermaßnahmen für Menschen mit Behinderungen vor. Maßnahmen für Neuzugewanderte werden jedoch in der Praxis häufig abgelehnt mit der Begründung, dass dafür ein Sprachniveau von mindestens B 1 oder B 2 als erforderlich angesehen wird. Teils wird sogar die Testung durch den Sozialpsychologischen Service der Bundesagentur für Arbeit mit dem Argument mangelnder Sprachkenntnisse abgelehnt. Dieses (nicht gesetzlich normierte) Vorgehen schließt die meisten neu zugewanderten Menschen auf Jahre, wenn nicht gar dauerhaft von einer Teilhabe am Arbeitsmarkt aus, sofern sie aufgrund von Sinnesbeeinträchtigungen oder kognitiven Einschränkungen nur verzögerten oder gar keinen Zugang zu adäquater Deutschförderung hatten.
Um Teilhabe zu ermöglichen und ihre Integration in den Arbeitsmarkt wesentlich zu beschleunigen, empfiehlt die IntMK berufsvorbereitende Maßnahmen für Neuzugewanderte mit Behinderungen ab Sprachniveau A 1 mit bedarfsgerechtem Sprachförderanteil zu schaffen.
9. Aufenthaltsrechtliche Perspektive bei unverschuldetem Bezug von Sozialleistungen
Migrantinnen und Migranten mit einer Behinderung haben es - nicht zuletzt aufgrund der genannten Barrieren - deutlich schwerer, eine Beschäftigung zu finden. Einige sind zudem auf Pflegeleistungen durch Familienangehörige angewiesen, die dadurch bedingt nur selten für den Lebensunterhalt der gesamten Familie aufkommen können.
Die Verlängerung von Aufenthaltstiteln ist jedoch meist an die Bedingung geknüpft, dass der oder die Antragstellende den eigenen Lebensunterhalt sichern kann beziehungsweise der Lebensunterhalt der Kernfamilie gesichert ist. Für die Erteilung der (unbefristeten) Niederlassungserlaubnis kann zwar bei Erwerbsunfähigkeit von der Sicherung des Lebensunterhalts abgesehen werden; dies gilt jedoch nicht für Angehörige, die aufgrund des zeitlichen Aufwands für die Pflege ihrer Angehörigen keine Erwerbstätigkeit in einem Stundenumfang annehmen können, der ihnen die Sicherung ihres Lebensunterhalts erlaubt.
Im Zuge der Reformierung des Staatsangehörigkeitsrechts von August 2023 wurde zudem der Passus gestrichen, der einen Anspruch auf Einbürgerung trotz Bezugs von Sozialleistungen vorsah, wenn deren Inanspruchnahme als unverschuldet betrachtet wurde. Dies gilt nunmehr unter anderem nur noch für Personen, die im Zuge von staatlichen Programmen als Gast- oder Vertragsarbeiter angeworben wurden und die sonstigen Voraussetzungen erfüllt sind. Migrantinnen und Migranten mit einer Behinderung beziehungsweise deren pflegende Angehörige können – auch wenn sie nachweisen, dass sie alles Mögliche und Zumutbare unternommen haben, um ihren Lebensunterhalt dauerhaft zu sichern – künftig in der Regel nur eine Einbürgerung im Ermessenswege beantragen.
Eingeschränkte Erwerbsfähigkeit beziehungsweise Erwerbsunfähigkeit aufgrund einer Behinderung beziehungsweise der Pflege von Angehörigen darf kein Grund sein, dass Menschen ihren Aufenthaltsstatus verlieren beziehungsweise von einer Anspruchseinbürgerung ausgeschlossen werden. Deshalb muss von Erteilungsvoraussetzungen, die behinderungsbedingt nicht erfüllt werden können, abgesehen werden.